Wenn der Körper nicht mehr kann

Heute ist ein guter Tag.

Gut im Sinne von:

Ich mag hier sitzen und schreiben.

Ich war draussen.

Ich habe die Wohnung sauber gemacht und viele Alltagsdinge erledigt.

Ich habe heute genug Energie, meinen Tag mit Normalität zu füllen und zu geniessen, dass es so ist.

Gestern war das alles nicht möglich. Und vorgestern auch nicht. Da war nur ich, mein Bett und diese lähmende Müdigkeit, die schon seit einigen Wochen meine Tage bestimmt und mich dazu zwingt, nichts zu tun.

Erschöpfung ist an sich nichts Neues für mich. Wir alle kennen solche schlappen und trägen Momente, die uns etwas kürzer treten lassen. Nach einer anstrengenden Woche, vollgestopft mit Arbeit und Terminen, Kind und Haushalt und was sonst noch alles ansteht, freuen wir uns auf die vermeintliche Entspannung am Wochenende ohne Hektik und ohne allzu viele Verpflichtungen.

Ich hatte auch einmal ein solches Leben: 4 Jobs gleichzeitig, zwei Ausbildungen reingequetscht, ein Kind alleine gross gezogen und alles mit einem unglaublich gewissenhaften Pflichtgefühl bewältigt. Trotz der Angst.

Und es lief. Über Jahre. Weil ich gut funktionierte und mich stark über die tagtägliche Leistung definiert habe. Klar war ich oft erschöpft, aber ich war so verbissen darin, zu beweisen, dass ich mein Leben im Griff habe, dass ich die Anzeichen von Überforderung nicht wahrnehmen wollte. Ich durfte nicht versagen.

Vor zwei Jahren dann der grosse und auch nachvollziehbare Zusammenbruch. Mein Körper, auf dessen Stärke ich mich trotz Angstattacken immer wieder verlassen konnte, schrie nach Aufmerksamkeit und fing an zu streiken.

Vollgepumpt mit Adrenalin und anderen Stresshormonen, weil fast jede Situation Gefahr bedeutete und sämtliche Alarmglocken dauerhaft am klingeln waren, befand ich mich in einer Dauerüberreizung und einer derart massiven inneren Unruhe, dass ich es über Wochen nicht mehr schaffte, ruhig sitzen zu bleiben. Und auch wenn sich das System irgendwann einmal wieder beruhigen konnte, ist mein Körper seit dieser Zeit out of control und völlig aus dem Gleichgewicht geraten:

  • Mein Immunsystem muss man mit der Lupe suchen. Manchmal habe ich das Gefühl, es existiert gar nicht mehr, so oft wie ich in den letzten zwei Jahren krank im Bett lag. Rekord: 3 mal im Monat wegen Grippe auf der Arbeit gefehlt. Stress vorprogrammiert, was wiederum das Immunsystem schwächt.
  • Immer wieder Phasen der Überreizung. Der innere Motor ist am rotieren. Panikgefühle, Nervosität und Überempfindlichkeit gegen alles und jeden sind an der Tagesordnung.
  • Gleichzeitig erlebe ich diese Erschöpfung, weil mein Körper das Chaos nicht mehr halten kann und die innere Spannung unerträglich ist.
  • Und zu guter Letzt gedenke ich der Zecke, die mich mit einer Borreliose „beschenkt“ hat. Du hast echt gute Arbeit geleistet! Und ich hoffe, du hast dich an mir so vollgefressen, dass dir die Lust an weiteren Attacken gründlich vergangen ist.

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Nun, ich habe gelernt geduldig zu sein. Und ich habe durch meine ganze Geschichte auch gelernt, mit gewissen Unsicherheiten umgehen zu können. „Das einzig Sichere ist die Unsicherheit“, meinte mein Arzt bei meiner letzten Untersuchung. Er hat mir aber auch gesagt, dass er nicht mehr weiter weiss. Meine Werte sind alle top. Eigentlich bin ich kerngesund.

Hmmm…

Was heisst das jetzt? Bilde ich mir alles nur ein? Sollte ich an meiner Wahrnehmung zweifeln? Meine Ex-Therapeutin würde sich an dieser Stelle ins Fäustchen lachen und laut rufen: „Ich hab`s ja gesagt! Bei Ihnen ist ALLES psychosomatisch! Auch die Borreliose! Einfach ALLES!!!“

(Kleine Bemerkung am Rande: Sie ist nicht umsonst meine Ex-Therapeutin.)

Nein. Ich war schon immer mein bester Arzt und das wird dieses Mal nicht anders sein. Auch wenn die Werte der Schulmedizin eine andere Sprache sprechen. Fakt ist, meinem Körper geht es nicht gut. Ich fühle es, ich sehe es und ich weiss es. Warum? Aus dem einfachen Grund, weil Gesundheit für mich kein Fremdwort ist. Ich kenne das Gefühl, mich gut zu fühlen und einen gesunden Körper zu haben. Deshalb kann ich ganz sachlich beurteilen, dass etwas nicht stimmt und ich weiss auch was es ist.

Mein Körper sehnt sich nach Frieden, nach Ruhe und nach Stabilität.

Ich fühle mich manchmal wie ein altes Schlachtross, das kämpft und kämpft und kämpft, sich aber nicht sicher ist, für welche Seite. Kämpfe ich für mich? Oder dafür, die Dinge am Laufen zu halten? Kämpfe ich eigentlich für oder gegen etwas? Oder kämpfe ich, weil ich mir nicht anders zu helfen weiss? Um nicht unterzugehen?

So oder so. Für mich macht der Kampf keinen Sinn mehr. Weil es mich nicht weiterbringt. Diese Lektion habe ich jetzt gelernt. Und ich habe mich dazu entschieden, ganz anders an die Sache ranzugehen:

  • Loslassen

Zu erkennen, welche Bereiche im Leben nicht mehr stimmig sind, ist ein gesunder, aber sehr schmerzhafter Prozess. Hier geht es darum, für sich selber einzustehen, auch wenn das heisst, sich von seinen Träumen, Zielen oder sogar von Menschen zu lösen. Wenn keine Veränderung mehr stattfinden kann, wenn wir in bestimmten Bereichen immer wieder an unsere Grenzen stossen, uns hilflos oder ambivalent fühlen und trotz grosser Bemühung nichts bewirken können, dann ist es Zeit loszulassen. Aus diesem Grund habe ich vor einigen Wochen meine langjährige Beziehung beendet. Es war im Endeffekt weniger eine Entscheidung gegen ihn, weil ich diesen Mann immer noch liebe, sondern eine Entscheidung für mich und meine Gesundheit.

  • Dem gesunden Teil Raum geben

Jetzt habe ich die Möglichkeit zu lernen, wie ich der Unsicherheit vertrauen kann. Viel Gewohntes fällt weg, genauso wie das grosses Stück Sicherheit, das mir die Beziehung trotz allem geben konnte. Jetzt geht es darum, mir selber sicher zu sein und mein Leben neu auszurichten. Und das braucht meine Stärke, meinen Mut und die Hoffnung, dass vieles besser wird. Gesunde Anteile werden aktiviert, es entsteht Raum für Neues.

Bei jeder Art von Krankheit, sei sie psychischer oder physischer Natur, dürfen wir nicht vergessen, dass wir nicht nur aus Schmerzen, Depressionen, Ängsten und so weiter bestehen. Wir sind viel mehr als unsere Krankheit. Wir vergessen oft, dass es Bereiche gibt, die wir gut meistern können oder die wie von selber laufen. Manchmal sind wir so in unserem Elend versunken, dass wir die guten Dinge gar nicht mehr sehen können.

Was läuft in meinem Leben ohne grosse Anstrengung?

Ich liebe diese Frage, weil sie mir genau zeigt, auf was ich meine Aufmerksamkeit lenken sollte, um mich besser zu fühlen und mir gleichzeitig vor Augen führt, in welchen Bereichen es schwierig ist. Nicht unbedingt angenehm, aber eine riesen Chance für uns, etwas zu verändern.

  • Dialog mit dem Körper

Meine Schwierigkeiten rational lösen zu wollen, klappt bei mir nicht. Ich weiss zwar, dass die Angst im Kopf entsteht und habe sehr viel Hilfreiches darüber gelernt, mit meinen Gedanken angemessen umzugehen, kann dieses Wissen aber nicht gebrauchen, wenn es darum geht , meinem Körper wieder zu vertrauen. Auch deshalb, habe ich mich von der Gesprächstherapie verabschiedet.

Wenn wir vom Körper getrennt sind, können wir nicht vollständig präsent sein. Ein bedeutungsvolles Leben beruht auf einem Gefühl von Dynamik und Präsenz, die beide von einem vertrauten Kontakt mit inneren körperlichen Zuständen herrühren. -Willhelm Reich-

Wenn ich zu meinem Körper eine Beziehung aufbauen will, wenn ich wissen will, wieso er mir solche Probleme bereitet, dann muss ich mit ihm „arbeiten“ und nicht mit meinem Verstand. Das war mir lange Zeit nicht klar, weil ich immer ein sehr hartnäckiger Kopfmensch gewesen bin. Jetzt scheint mir das logisch zu sein.

Letzte Woche hatte ich einen ersten Termin bei einer Körpertherapeutin und bin begeistert. Schon in der ersten halben Stunde wusste ich mehr über die Zusammenhänge und Gründe, wieso mein Körper so durcheinander ist, als in mehreren Therapiegesprächen zusammen. Zudem bekam ich hilfreiche Werkzeuge mit auf den Weg, die ich bei beginnender Panik oder bei Unruhe einsetzen kann. (Davon in einem späteren Beitrag mehr)

Und: Ich konnte wieder einmal tief durchatmen!

Aber das Allerbeste war: Ich fühlte mich als Mensch gewürdigt. Nichts an mir ist falsch, nur weil ich bin wie ich bin. Alles hat seine Gründe und seine eigene natürliche Auswirkung auf mich und mein Leben. Alles darf so sein, wie es im Moment eben ist.

Auf jeden Fall bin ich dem inneren Frieden, den ich mir so wünsche, ein klitzekleines bisschen näher gekommen oder habe zumindest daran geschnuppert.

Es fühlt sich gut an.

 

 

 

 

 

 

 

 

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